Sidestory
Kapitel 6
Dein Gefängnis
„
Manchmal bin ich mir selbst der größte Feind
“
Faith
Sein Geist konnte verschreckend sein. Zu viele furchtbare Erinnerungen verbargen sich hinter den tieferen Mauern. Dennoch war es wie ein Aroma, welches durch sein ganzes Innerstes waberte und somit für jeden zu erfassen, der sich durch seine Türen begab. Manche verurteilten ihn, bevor sie wussten, woher ihr ungutes Gefühl kam. Faith war anders. Sie war vom ersten Moment an anders gewesen. Seiner Meinung nach lag dies nicht nur daran, dass sie den Geschmack bitterer Erinnerungen kannte, sondern daran, dass sie eins der mutigsten Wesen war, die er kannte. Wer wäre sonst einem sonderbaren Kerl wie ihm hieher gefolgt?
Faith zitterte. Der kalte Wind wischte über ihre nackte Haut und ließ ihren Blick immer wieder sehnsüchtig zu ihrer Kleidung gleiten. Dabei schienen ihre langen, schwarzen Haare sich um ihren Körper zu wickeln, als wollten sie diese wärmen. Der Abschied von Vaughn war schwer gewesen. Dennoch hatte sie nach dem Kuss nichts mehr daran hindern können mit ihm zu gehen.
Noch schlimmer war ihre Situation dadurch, dass sie aus der Ferne beobachtet wurden – leider eine der Bedingungen für ihren Abflug aus der Psychiatrie. Das konnte man definitiv nicht mit einem Test in der Schule vergleichen. Zumal eine schlechte Note zu bekommen lächerlich im Vergleich zu den Konsequenzen hier war.
«Du denkst zu viel», hörte sie die Worte von Zero. Der schwarze Wolf mit den gelben Augen stand vor ihr. Im Geiste waren sie miteinander verbunden.
«Versuch, es zu fühlen. Fühl den Wind in deinen Haaren, atme tief ein, nimm den Geruch meines Fells war», versuchte Zero ihr zu helfen. Doch er nahm auch den scharfen Geschmack ihrer Angst wahr. Er musste lächeln. «Denkst du nicht, dass ich viel stärker bin? Egal was passiert, ich bin an deiner Seite. Du wirst weder mir noch anderen etwas antun. Auch dir selbst nicht. Ich halte meine Versprechen, immer!» Während er sprach, ließ er seine Gefühle über die Verbindung fließen. Das Gefühl von Gras unter den Pfoten, Wind in seinem Fell, die Aufregung und der Spaß, wenn er eine Fährte folgte … und das Gefühl nicht allein zu sein! Er hob den Kopf und stieß ein langes, dunkles Heulen aus. Es hallte bis tief in den Wald hinein und ließ das Zwitschern der Vögel verstummen. Die Stille danach schien für einen Moment schwer und erdrückend. Doch dann ertönte ein weiteres Heulen, der Schrei einer Hyäne, das Wiehern eines Pferdes, der Ruf eines Hirsches und der Schrei eines Falken. All die Naturalisten, die gerade in der Nähe waren, antworteten auf seinen Ruf.
Sie wollte widersprechen. Es war nicht nur die Angst, sie könnte die Kontrolle verlieren. Es war auch die Angst vor den Erinnerungen … Doch bevor sie etwas sagen konnte, strömten seine Gefühle in sie hinein und weckten die Sehnsucht. Das lange, schwarze Haar wurde weiß und zog sich langsam in ihren Körper zurück, während sich ihre blauen Augen weit aufrissen. Faith konnte sich nicht erinnern, wann sie die letzte Verwandlung so intensiv wahrgenommen hatte. In der Regel platzte diese brutal aus ihr heraus ohne, dass sie so genau wahrnehmen konnte, wie überall aus ihren Poren weißes Fell spross. Sie spürte ihre nun beweglichen Ohren und das Maul, welches sich langsam bildete, bevor sie auf alle vier Pfoten fiel. Ihr Herz raste.
Der schwarze Wolf beobachtete ruhig Faiths Verwandlung. Auch als sie auf allen vier Pfoten vor ihm stand, rührte er sich nicht und zählte nur ruhig seine Atemzüge. Er wusste wie jeder Wandler, dass es überwältigend sein konnte, sich nach langer Zeit zu verwandeln. Für Faith musste es noch intensiver sein, vor allem, da sie es das erste Mal, seit ihrer Kleinkind-Phase, freiwillig machte. Jede Berührung könnte jetzt zu viel sein, weshalb er seinen Geist so ruhig wie Wasser hielt. Als sie losrannte, folgte er ihr.
Es roch nach Gras, nach Tieren, Menschen und FREIHEIT! Instinktiv öffnete die Fähe das Maul und schmeckte die Luft. Dann schoss sie los, folgte der Spur von Wild tief in den Wald hinein. Immer wenn der andere Wolf ihr zu nahe kam, fletschte sie die Zähne und knurrte ihn an. Er gehörte nicht zum Rudel. Sie war alleine! Und er würde nichts von ihrer Beute bekommen! Dafür würde sie sorgen.
Je näher sie ihrem Opfer kam, desto langsamer wurde sie, die Nase dicht am Boden. Bald hielt sie inne und lauschte nur noch in den Wald hinein, atmete den Duft ein und schmeckte das Wild schon auf ihrer Zunge. Ein verletzter, junger Rehbock stand auf einer kleinen Lichtung. Die Fähe musste sich von der windabgewandten Seite anschleichen, damit er nicht die Flucht ergreifen konnte, bevor sie ihn gerissen hatte.
Hoffentlich machte der Rüde ihr die Arbeit nicht kaputt. Doch er schien sich zurückzuhalten. Ganz langsam kroch sie in Position und spannte ihre Muskeln an … eins … zwei … drei …
Sie schoss los, der Bock hob erschrocken den Kopf. Noch zwei Sprünge – der Bock setzte an loszuschießen. Noch ein Sprung – sie drückte sich vom Boden ab, so fest sie konnte und durchstieß mit ihren Zähnen seine Kehle. Das warme Blut drang in ihr Maul ein.
Blut in ihrem Maul! Blut auf ihrem Fell! Blut in ihrer Nase. Der erstickte Schrei ihres kleinen Bruders in ihren Ohren. Die kleinen zarten Hände, die versucht hatten sie abzuwehren. Ein zarter Körper, der zu Boden fiel und Unmengen an Blut, das sich über den Boden und ihre Pfoten ausbreitete.
«NEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEIN», das hatte sie nie gewollt! Sie liebte ihn doch! Das musste ein Albtraum sein! Faith musste nur noch aufwachen, dann wäre alles wieder gut und er würde in seinem Bett schlafen. Niemals würde sie so etwas tun.
Der Schmerz war unerträglich. Ihr mentaler Schrei erreichte jeden Geist im Umkreis, während sie von dem getöteten Reh zurück stolperte und die Flucht suchte. Als wenn es helfen würde, so weit und schnell sie konnte zu rennen! Dennoch hielt sie nichts mehr.
Zero versuchte Faith in Gedanken zu erreichen. Doch sie war völlig blockiert. Er prallte immer wieder an einer Wand voller Erinnerungen ab, die er jedoch nicht greifen konnte. Natürlich folgte er ihr und versuchte sie auf sich aufmerksam zu machen. Seine Brust schmerzte höllisch bei dem Gedanken an ihre innere Qual und zu merken, dass er nichts tun konnte, um ihr zu helfen. Er konnte nur da sein – hoffen dass sie seine Anwesenheit spürte.
Als das schwarze Pferd mit dem ebenholzfarbenen Geweih zwischen den Bäumen hervortrat, überfiel ihn kurz Furcht – gefolgt von einer tiefen Ruhe. Mit seinen Augen bat er stumm um Hilfe.
«Komm aus der Dunkelheit. Der Schmerz, den du verspürst, zeigt, dass du ein gutes Wesen hast. Egal wie weit du rennst und egal, wie laut du schreist. Niemand wird dir diesen Schmerz nehmen können. Diese Schuld wirst du für den Rest deines Lebens tragen und nur du selbst kannst dir helfen, indem du akzeptierst, was du getan hast», sprach der schwarze Hirsch in ihren Gedanken. Eine Stimme die trotz der harten Worte, Wärme und Entspannung in sie fließen lies. «Komm aus der Dunkelheit. Du warst nie dazu bestimmt allein zu sein. Du musst dich nicht mehr alleine durchkämpfen. Du hast Freunde. Du hast ein Leben und es gibt einen anderen Weg, es zu leben, als dich für den Rest deiner Tage zu bestrafen. Lebe und kämpfe für diese Welt. Kämpfe dafür, dass niemandem mehr das geschehen muss, was dir passiert ist. Du bist nicht alleine.» Der Blick des Naturgeistes fiel auf Zero, dessen gesträubtes Fell immer noch seine Anspannung zeigte. Seine Augen jedoch zeigten so viel mehr. Diese Wärme war unverkennbar.
Faith hätte das komische Pferd beinahe angefallen, so sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Erst die Berührung ihres Geistes ließ sie völlig erstarren. Mehrere Erkenntnisse prasselten gleichzeitig auf sie ein. Das Pferd hatte ein Geweih. Die Stimme in ihrem Geist war weder weiblich noch männlich. Der fremdartige Geist brachte eine seltsame Wärme mit sich, die ein tiefes Gefühl von Geborgenheit in ihr auslöste. Ein Gefühl, welches sie geglaubt hatte, längst vergessen zu haben.
«Welchen anderen Weg? Die Welt braucht mich nicht. Niemand braucht mich», platzte es dennoch aus ihr heraus. Wie sollte sie anderen helfen? Sie konnte doch nicht einmal sich selbst helfen!
«Ich spüre deine Zweifel. Doch du gehst zu hart mit dir ins Gericht. Der Weg anderen zu helfen, beginnt damit zuerst sich selbst zu helfen. Du bist nicht allein. Nicht nur Zero wird an deiner Seite sein. Du wirst viele kennen lernen, die wie wir im Einklang mit der Natur leben und dennoch die Verbindung zur ganzen Welt halten wollen. Du bist nicht allein mit deinem schweren Schicksal. Damit niemand mehr erleben muss, was dir geschehen ist, muss sich die Welt ändern. Wir müssen uns ändern. Auch du musst dich ändern. Du bist ein Wolf mit all seinen Instinkten und Gelüsten. Du bist ein Mensch mit all seinen Emotionen und niederträchtigen Gedanken. Doch bist du deshalb böse? Nein das bist du nicht! Schenk mir einen kleinen Funken deines Vertrauens und lass dich davon überraschen, wie es ist zu leben», übermittelte der Rappe und sog zum Ende tief die Luft durch seine geblähten Nüstern ein, als wolle er sagen, dass es manchmal reichte, einfach nur zu atmen.
Faith sah den seltsamen Wandler skeptisch an und wandte den Blick dann zu Zero, um ihn eine ganze Weile zu mustern. Immer noch in Gedanken wandte sie sich wieder an das Hirsch-Pferd. «Was bist du?» Sie hatte noch nie von einem solchen Wesen gehört. «Wer seid ihr? Seid ihr alle Naturalisten?»
«Hier nennt man mich Namida. Ich bin ein Naturgeist und nein, wir sind nicht alle Naturalisten. Wir sind ein Bündnis aus Wandlern und ein paar wenigen Menschen, die versuchen die Welt ein wenig zum besseren zu wenden. Das Gleichgewicht zwischen Natur und Menschheit muss wiederhergestellt werden. Ansonsten werden wir unserem Schicksal nicht entrinnen können. Denn die Erde leidet … wir alle leiden …» Das Pferd blinzelte sacht. So ruhig, wie es dastand, wirkten die Worte fast paradox.
Zero trat näher zu Faith und leckte ihr über das Ohr. «Lass uns zu den anderen gehen», schlug er vor und geleitete die beiden zurück durch den Wald zu dem Gartenzaun des Landhauses, an welchem Dr. Goodwyn und Canai warteten. Er war ganz gemütlich gelaufen, damit Faith Zeit hatte all die Informationen, die sie gerade bekommen hatte, zu verarbeiten und darüber nachzudenken, was sie wollte. Er selbst hatte noch mit einigen Gefühlen zu kämpfen. So war er erst innerlich ruhig, als sie zu den anderen traten.
Faith konnte einfach nicht fassen, was hier gerade passierte. Zum Teil glaubte sie, dass sie wohl beim Wegrennen, sehr stark mit dem Kopf gegen einen Baum geprallt war. Doch als sie aus dem Wald kamen und Dr. Goodwyn das Hirsch/Pferd ebenfalls eindeutig beobachtete, wurde ihr langsam klar, dass es wohl doch Realität war, was gerade geschah. «Zero können wir kurz reden? Nur wir beide?», fragte sie und als dieser nickte, verschwand sie mit ihm wieder zwischen den Bäumen.
Namida trat langsam näher zu dem älteren Mann und berührte ihn sanft mit den weichen Nüstern an der Stirn …