Sidestory
Kapitel 2
Rote Tattoos
„
Trage deine Narben als wären sie Tattoos!
Denn du kannst so stolz darauf sein, was du alles überlebt hast!“
– vgl. Citizien Soldier – Tattoos
Sie war auf dem Weg zu einer Therapiestunde mit Dr. Goodwyn. Sprich sie war auf dem Weg sich so zu verhalten, als habe sie sich gebessert, damit man sie endlich entließ. Als sie am Pflegezimmer vorbei kam, hatte sie direkt wieder das Gefühl, dass sie alle ansahen und tuschelten, weil sie schon so lange da war. Die wenigsten schienen ihren Job wirklich zu mögen und sahen Faith nur als Belastung. Vielleicht war sie das auch?
Nur Dr. Goodwyn schien sich tatsächlich dafür zu interessieren was sie dachte. Zumindest glaubte Faith das. Der Psychiater war der Einzige gewesen, der Nachforschungen betrieben hatte, um ihr zu erzählen, was mit ihren Eltern geschehen war. Diese hatten sie nicht einfach verstoßen. Sie hatten nicht wiederkommen können!
Vermutlich war ihr nur deshalb das Kunststück gelungen, so lange unter Menschen aufzuwachsen und ihr Wandeltier zu unterdrücken. Seit sie als sieben Jahre alt galt, hatte sie sich nicht mehr freiwillig – und schon gar nicht gerne – verwandelt. Eine Seite von sich so entschieden zu unterdrücken, fühlte sich an, als hätte man sich selbst schwerwiegend verstümmelt. Doch dieses Gefühl nahm sie gerne in Kauf, wenn sie an das zurückdachte, was geschehen war. Warum musste ihr Wandeltier auch ausgerechnet ein Wolf sein? Warum hatte sie nicht eine Katze sein können? Auch etwas Harmloses wie eine Taube wäre ihr Recht gewesen, denn dieses Raubtier passte überhaupt nicht zu ihr.
Vor der Tür des Psychologen blieb sie stehen und klopfte höflich an. Wie so oft, schlug ihr Herz heftig vor Aufregung. Was sollte sie Dr. Goodwyn nur erzählen?
Auch diesmal haderte sie in ihrem Inneren damit nicht doch einfach die Wahrheit zu sagen. Vielleicht konnte er ihr wirklich helfen? Doch vermutlich war es besser, beim Alten zu bleiben und sich weiter unauffällig zu verhalten. Genau, sie musste versuchen, normal zu sein … bereit entlassen zu werden. Das war ihr Ziel!
Adam hatte Faith erwartet und bat sie beim ersten Klopfen herein. Er saß in einem seiner bequemen Sessel und arbeitete einige Notizen durch, um sich schon einmal Gedanken über die Sitzung zu machen. Sie waren in den letzten Wochen deutlich vorangekommen. Seinem Gefühl nach fasste Faith immer mehr Vertrauen zu ihm. Dies zeichnete sich auch darin ab, dass sie Adam vergangene Woche von ihrem ersten Selbstmordversuch erzählt hatte und wie unangemessen ihre Stiefmutter darauf reagiert hatte. Da sie bei Menschen aufgewachsen war, die auf Grund des geltenden Gesetzes kein Wissen über Faiths Fähigkeiten gehabt hatten, hatte er sich das Verhältnis bereits als schwierig vorgestellt. Auch hatten sie keinerlei Kontakt mehr zu der jungen Erwachsenen. Dies machte es für ihn und die Klinik natürlich leichter, da sie Interaktionen mit der Familie ohnehin unterbunden hätten. Zumindest vorerst … ein Mensch auf der Wandlerstation … undenkbar.
Durch das Erlebte fehlte ihr das Vertrauen in Personen, die ihr helfen und sich kümmern wollten. Schließlich hatte sie das genaue Gegenteil erfahren. Zudem hatte sie ihm von ihrem Verhalten berichtet, sich eher in Männer zu verlieben, die sie schlecht behandelten. Dieses Muster zeigte sich oft bei Patienten, die sich selbst hassten. Sie sabotierten damit unbewusst ihr eigenes Leben und sorgten dafür, dass sie bestraft wurden. Adam hatte genau zu diesem Thema eine Frage auf den Lippen. Doch er würde warten, und ihr die Chance geben es selbst anzusprechen.
Nun stand er kurz auf und reichte ihr zur Begrüßung die Hand, um ihr mit einem warmen Händedruck Sicherheit zu geben. «Hallo Faith. Wie geht es dir?», begrüßte er sie mit einer gefühlten Standardphrase. Daraufhin hatte sie, wie immer die Wahl sich hinzusetzen, wo sie wollte – oder auch stehen zu bleiben, wenn ihr das lieber war. Sein Büro glich ohnehin eher einer Bibliothek. Die Wände waren voll mit Bücherregalen, in denen nicht nur Fachbücher standen. Er hatte alte aber bequemen Ledersessel sowie ein fast bodentiefes Fenster, dessen Fensterbank zu einer Sitzecke gestaltet worden war. Durch dieses konnte man eine ruhige Ecke des Wandlergartens einsehen.
Schweigend schloss Faith die Tür hinter sich, trat zu dem Doktor und ergriff kurz seine Hand, bevor sie wieder an ihren Fingernägeln knibbelte. Entgegen ihrer Gewohnheit, herumzulaufen oder am Fenster stehen zu bleiben, setzte sie sich diesmal in einen Sessel dem Psychiater gegenüber. Unsicher zog sie dabei die Beine an, sodass diese ebenfalls auf dem Sessel zum Liegen kamen. Einen Moment später hatte sie unbewusst die Arme zum Schutz um ihren Oberkörper gelegt. «Hmm, ich würde sagen den Umständen entsprechend», beantwortete sie zögernd die Frage. Obwohl sie sich eben noch so sicher gewesen war, schwankte ihr Entschluss bereits wieder.
Deshalb brauchte sie einen Moment, bevor sie ihre Schultern straffte und sagte: «Dr. Goodwyn, ich fühle mich seit einiger Zeit viel besser und hatte auch keine negativen Gedanken oder dergleichen mehr. Sie wissen mittlerweile, dass mein Leben bisher nicht so super verlief, und verstehen von daher sicher, warum ich aufgeben wollte. Ich bin jedoch jetzt bereit weiter zu machen. Ich möchte Leben und ich denke, ich bin bereit entlassen zu werden.» Klang das zu sehr, als hätte sie es auswendig gelernt? Sicher hatte er das gemerkt oder?
Bevor ihre Angst noch mehr Fahrt aufnahm, sprach sie weiter: «Können sie mir sagen, wie die Möglichkeiten für mich stehen?» Sie fand das sehr höflich formuliert. Für die Dunkelhaarige galt das als entscheidend, um zu bekommen, was sie wollte. Zumindest hieß es, dass man mit Höflichkeit eher ans Ziel kam als mit Drohungen oder Forderungen.
Für den Psychiater kam Faiths Bitte nicht überraschend. Jedoch hatte er eine Vermutung, dass es vielleicht mit Zero zu tun hatte. In der Hoffnung, dass sie noch etwas sagen würde, ließ er für einen Moment das Schweigen für sich arbeiten.
«Du hast grundsätzlich alle Möglichkeiten», erklärte er gelassen und zog ihre Akte zu sich, um ihr zu zeigen, dass er sie ernst nahm. Beim Sprechen blätterte er ab und an in dieser, um auch noch einmal die neuen Berichte der Pflege und anderen Therapeuten in der Klinik vor Augen zu haben. «Du machst gute Fortschritte und verhältst dich sozial und freundlich. Ich glaube dir auch, dass es dir besser geht. Aber mit deiner ganzen Haltung, sagst du mir, dass du deinen eigenen Aussagen widersprichst. Du bist immer noch sehr verunsichert und ängstlich. Möchtest du mir nicht erzählen warum du gerade jetzt entlassen werden möchtest?»
Auch wenn ihm bewusst war, dass er gerade angelogen worden war, nahm er es nicht wie eine Lüge auf. Dies war Faith`s Mechanismus, um sich selbst zu helfen. Denn das die Selbstmordgedanken vollständig verschwunden waren, glaubte er nicht. Sie hatte sich laut der Akte, und seines Wissens nach, in den letzten zwei Wochen nicht ein einziges Mal verwandelt. Für einen Wandler war dies eine lange Zeit und es benötigte sehr viel Kraft seine andere Seite so sehr zu unterdrücken. Das machte sie auch gefährlich. Nicht nur für sich selbst und andere, sondern die gesamte Wandlergemeinde an sich. Wenn ihr Wandeltier unkontrolliert herausbrach, während sie sich in der Öffentlichkeit befand, würden auch die Seekers nichts mehr machen können. Natürlich wünschte er ihr nicht, dass das Wandlerpolizei-Sondereinsatzkommando, Seekers, sie erwischte und tötete. Viel mehr wollte er ihr helfen, die Verbindung zu ihrem Tier wiederzufinden. Die zwei Hälften wieder zusammenführen und ihre Gefühlswelt stabilisieren.
«Wenn sie schneller entlassen werden wollen, könnten wir es immer noch mit Medikamenten versuchen. Ich kann dir nicht versprechen, dass es den Prozess wirklich beschleunigt, doch sie können einiges bei der Heilung unterstützen.», bot er ihr diese Möglichkeit an. Medikamente waren keine Wundermittel und Adam wollte auch nicht, dass sie sich dazu gedrängt fühlte. Es war katastrophal, wenn Patienten entlassen wurden, die überzeugt waren die Medikamente würden nicht wirken und dann einen Absturz bekamen, weil sie diese abrupt absetzten.
Das Schweigen des Psychiaters hatte sehr langsam Faiths Zuversicht und gespielte Selbstsicherheit in eine neutrale Maske verwandelt, sodass sie fast überrascht war über seine Antwort. Sie hatte alle Möglichkeiten? Wie meinte er das?
Als dieser dann auch noch ihre Akte zur Hand nahm und zu sprechen begann, verlor sie sich zu schnell in falschen Hoffnungen. Natürlich hatte sie sofort ihre Arme sinken gelassen. Doch es war zu spät. Sie hätte das besser üben müssen!
Faith hatte jedoch keine Zeit über ihr Versagen nachzudenken, denn da kam er schon mit Medikamenten. «Ich möchte keine Medikamente! Sie können nicht heilen. Sie unterdrücken doch nur. Das kann ich ohne auch ganz gut!», lehnte sie das Angebot sofort ab. Als wenn ein Beruhigungsmittel oder dergleichen ihr helfen würde! Sie würde nur die Kontrolle verlieren.
Jetzt gallt es jedoch zu lügen oder zumindest die Wahrheit zu verschönern und das besser als vorhin! «Ich weiß nicht, warum ich das mit den Armen mache. Mh, vielleicht zeigt es wirklich, dass ich noch ängstlich bin. Ich behaupte auch nicht, dass meine Albträume komplett weg sind. Natürlich bin ich auch kein Mensch, der frei von Ängsten ist. Aber meine größte Angst ist, hier für immer eingesperrt zu sein! Ich will entlassen werden, weil ich glaube, dass ich hier nicht weiterkommen.» Gut sie hatte nun durchaus provokanter geklungen als gewollt. Doch ihrer Meinung nach war dies eine sehr schlüssige Erklärung.
«Sie sagten, ich hätte alle Möglichkeiten. Also kann ich gehen?», nahm sie nun den Angriff nach vorne und sah Dr. Goodwyn dabei misstrauisch an. Zero konnte sie nicht als Grund nennen. Der wilde Wandler war schon 26 Jahre alt, während sie immer noch minderjährig war. Dass sie schon 17 war, war den Leuten hier sicherlich egal. Dabei war dies lächerlich, wenn man bedachte, dass die Zeitrechnung bei Wandlern ohnehin anders war als bei Menschen. Nur noch zwei oder drei Monate und sie wäre erwachsen!
«Du hast recht. Medikamente können nicht heilen. Sie können einem nur eine Stütze sein», versuchte er es eher halbherzig sie doch noch zu überzeugen. Schließlich kannte er sie schon länger und sie sprachen nicht das erste Mal über dieses Thema. Es kam gar nicht so selten vor, dass Medikamente abgelehnt wurden. Manche Patienten hatten schlechte Erfahrungen gemacht oder wurden schon von der Vorstellung abgeschreckt, mehrere Wochen mit Nebenwirkungen zu kämpfen, bis eine Wirkung eintrat und das noch zusätzlich zu ihrem ohnehin miserablen Empfinden.
Natürlich überzeugten ihn ihre weiteren Erklärungen nicht. Dennoch hörte er sie geduldig an, bevor er ihre Hoffnungen zerstören musste. «Du wirst nicht für immer hier sein. Du hast wirklich gute Fortschritte gemacht und ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis wir dich entlassen. Wir könnten über ein betreutes Wohnen nachdenken. Dazu könntest du zur ambulanten Therapie einmal die Woche hierher kommen. Falls es dir lieber ist, könntest du auch in eine Art Tagesklinik hier übergehen. Das würde bedeuten, dass du zu den Therapiezeiten hier bist und den Rest des Tages natürlich frei planen und auch zuhause wohnen kannst», erklärte er und ließ die Worte erst einmal wirken.
«Ich denke nicht, dass du jetzt schon bereit für eine Entlassung bist. Du hast dich in den letzten Wochen kein einziges Mal verwandelt», erwiderte er und fragte nun doch direkter nach. «Hat dein Entlassungswunsch mit einem jungen Mann namens Zero zu tun?» Natürlich könnte sie ausweichen oder lügen – er würde nicht weiter bohren. Er konnte niemanden zwingen, ihm zu vertrauen.
Dass er nicht auf die Medikamente bestand, beruhigte sie ein wenig. Seine ersten Worte gaben ihr erneut Hoffnung … zumindest für einen Augenblick. Sie konnte solche Argumente nicht mehr hören. Das waren doch alles nur Phrasen! Hinhaltetaktik, nichts anderes war das!
Betreutes Wohnen klang auch nur nach Leuten, die ihr wieder sagten, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Die Option mit der Tagesklinik hörte sich zwar besser an, doch sie hatte gar keine eigene Wohnung. Zero würde sie sicher aufnehmen. Dieser lebte jedoch in der Natur. Wie sollte sie da jeden Tag zur Klinik und zurück kommen?
Diese Gedanken waren allesamt sinnlos und ihre Mine wurde nun doch ziemlich ärgerlich, als sie den Psychiater ansah. «Seit wann ist meine Verwandlung von Nöten, damit ich entlassen werden kann? Niemand kann mich dazu zwingen, mich zu verwandeln!» Doch noch während sie dies sagte, flackerte eine tiefe Angst in ihren Augen auf. Würde man sie zwingen? Schnell senkte sie den Blick, damit Dr. Goodwyn nicht sah, was sie dachte!
Was sie am wenigsten erwartet hatte, war, dass dieser Zero ansprach. Sie nutzte ihre echte Überraschung und fragte atemlos «Mit Zero?» Leider schaute sie danach auf den Boden und brauchte mehrere Minuten, um ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Also gab sie es auf so zu tun als ob – war doch alles Scheiße! «Vielleicht! Er will mir helfen, wenn ich draußen bin», gab sie zu. Am liebsten hätte sie noch mehr gesagt, doch sie hatte zu viel Angst vor den Konsequenzen. Schließlich waren Beziehungen zwischen Patienten verboten und dazu war sie eben noch minderjährig. Würde Dr. Goodwyn ihr die Beziehung verbieten und sie in ihr Zimmer einsperren, bis Zero entlassen war?
Adam spürte deutlich, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Er musste jetzt abwägen, wie viel noch heilsam für Faith war und was sie überfordern und zurück werfen würde. Dies war wirklich nicht einfach, weshalb er es immer mit einem Schritt für Schritt System versuchte, indem er ständig neu bewertete.
«Meine Aufgabe ist es sicher zu stellen, dass du keinen neuen Selbstmordversuch begehen, sobald ich dich entlasse. Dafür ist es nötig, dass wir aufarbeiten, was dazu geführt hat, und deine Verwandlung ist ein Teil davon. Keiner wird dich zwingen, dich zu verwandeln. Du hast hier alle Zeit, die du brauchst. Nur weißt du auch, dass früher oder später der Wolf in dir hervorbricht. Warum möchtest du die Verwandlung so sehr unterdrücken?», fragte er einfühlsam.
Er hatte schon länger das Gefühl, dass deutlich mehr hinter der Ablehnung zu ihrer anderen Seite steckte, als er bisher erahnte. Natürlich hatte sie einige Zeit unter Menschen gelebt, sich verstecken und kontrollieren müssen, immer in der Angst nicht nur erwischt, sondern auch getötet zu werden.
Selbst wenn ihre Familie einfühlsam und verständnisvoll gewesen wäre, hätten sie ihr nicht helfen können. Jeder Wandler bekam Unterricht von seinen Eltern und Freunden, beziehungsweise konnte man es eine gewisse Unterweisung nennen. Kleine Wandeltiere übten unter anderem Blitzverwandlungen, um nicht Gefahr zu laufen, von Raubtieren gefressen zu werden. Die Verbindung zur anderen Seite wurde von klein auf aufgebaut. Doch Faith hatte diese Verbindung bewusst abgebrochen.
Auch waren seine Sorgen bezüglich ihrer Suizidalität nicht unbegründet. Faith hatte schon mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Anders als die Allgemeinheit glaubte, stand dies nicht dafür, dass sie es nicht wirklich wollte und deshalb keinen Erfolg hatte. Die Statistiken besagten deutlich, dass sie einem endgültigen Ergebnis näher rückte – dem Tod.
Zu ihrer Aussage, bezüglich Zero, sagte er vorerst nichts. Er würde das Schweigen zwischen Ihnen arbeiten lassen und abwarten, was sie von sich aus erzählen würde.
Die Teenagerin konnte nachvollziehen was der Psychiater meinte, dennoch konnte sie nicht über Toby reden. Er war der Grund für all ihre Albträume – zumindest bis sie Zero kennen gelernt hatte. Jetzt träumte sie immer wieder, dass er sie verließ und in den Tiefen der Natur verschwand. Dann würde sie ihn nie wieder sehen. Einmal hatte sie sogar geträumt, wie sie ihn als Wolf angegriffen hatte und tötete.
Dr. Goodwyns Frage nach dem «Warum» ließ sie abermals den Blick heben. Instinktiv wollte sie wieder die Arme um sich schlingen – unterdrückte diesen Impuls jedoch diesmal. Dabei drängten sich vor ihrem inneren Augen die Bilder der Vergangenheit auf. Sie konnte einfach nicht an ihr Tier denken, ohne daran zudenken, was damals geschehen war. «Ich will mich einfach nicht verwandeln!», blockte sie ab und senkte den Blick nun doch so weit, dass ihre langen schwarzen Haare wie ein Vorhang über ihr Gesicht fielen. Sie biss sich auf die Lippe, um die sich androhenden Tränen zu unterdrücken – doch auch das war zwecklos. Nur einen Moment später, kullerten diese über ihre Wangen und tropften auf ihre Knie. «Ich will kein Biest ähm Raubtier sein.», presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Faith fragte sich zum ersten Mal, welches Wandeltier in dem Arzt steckte. Da sie nie eine Teilverwandlung in seiner Nähe zugelassen hatte, hatte sie seinen Geruch nicht aufschnappen können. Aus einem Impuls heraus wischte sie sich die Tränen weg und sah den Arzt wieder an. «Was sind sie eigentlich?», fuhr sie ihn beinahe an. Höflichkeiten waren vergessen. Ohne genau zu wissen warum, hatte sie gerade mehr das Gefühl ihn anknurren zu wollen. «Ich weiß nicht, ob das auch in meiner tollen Akte steht, aber ich bin ein Wolf und wahrscheinlich sind sie etwas Nettes und Zahmes.», warf sie dem Arzt vor. Noch nie war sie so ungehalten und gemein gegenüber einem Therapeuten oder jemandem vom Pflegepersonal gewesen. Sie hatte ihre Streiche abgezogen oder sie mit Schweigen gestraft. Doch jetzt erschrak sie vor sich selbst ein wenig.
Adam wusste, dass sie ein Wolf war. Doch selbst wenn es nicht in der Akte gestanden hätte, wäre er in der Lage gewesen über seinen Geruchsinn oder auch seinem Instinkt Hinweise auf ihr Wandeltier zu bekommen. Ihre verbalen Angriffe nahm er nicht persönlich und auf gewisse Weise konnte er diese sogar verstehen. Viele Psychiater, Psychologen und Therapeuten sahen davon ab, ihren Patienten irgendetwas Privates über sich zu erzählen. Er gehörte jedoch zur Fraktion, die der Überzeugung war, dass einen dies menschlich machte.
Da Faith sehr misstrauisch war, überlegte er, dass eine Teilverwandlung mehr Sinn ergab, als ihr bloß mit Worten sein Wandeltier zu verraten. Er nahm dabei die Gefahr in Kauf, dass er sie erschreckte. Mit etwas Glück würde sie erkennen, wie gut kontrollierbar ein Raubtier sein konnte.
Der Psychiater blieb gelassen auf seinem Sessel sitzen – das eine Bein über das andere geschlagen, als seine blass-blauen Augen in ein intensives, dunkles Blau wechselten. Die schwarzen Streifen des Tigers bildeten sich zuerst in seinem Gesicht ab, bevor das goldene Fell zu sprießen begann. Anschließend wuchsen die langen Reißzähne, die keinen Platz in seinem Mund fanden. Doch schon ab diesem Moment löste er die Verwandlung auf und wurde erneut zu dem langweiligen Arzt.
«Anders als die Menschen oft behaupten, sind Wölfe sehr soziale Tiere. Ein Rudel, in dem Omegas vernachlässigt und von Ranghöheren angegriffen und zurückgewiesen werden, kommt nur in sehr beengten Verhältnissen zustande. Ein Beispiel wäre ein Zoo oder ein Forschungsgehege. In der freien Natur jedoch, dürfen sogar Paare, in einem Rudel, Welpen miteinander bekommen. Diese werden auch vom ganzen Rudel akzeptiert und groß gezogen. Ja, Wölfe und Tiger sind Raubtiere. Doch auch Menschen essen Fleisch. Deswegen sind wir doch keine Monster, oder?», erklärte er ruhig.
Die Wölfin war noch mit dem Entsetzen über ihr Verhalten beschäftigt, als sich der Doktor plötzlich veränderte. Ihre Augen wurden riesig. Sie hatte absolut daneben gelegen. Er war alles andere als ein zahmes Schmusekätzchen. Ein Tiger … das hätte sie nie hinter seiner Erscheinung vermutet. So ruhig, gelassen und friedlich wie er immer war, konnte er doch kein so großes Raubtier sein!?
Sie dachte so lange darüber nach, dass sie ihn immer noch anstarrte, als dieser über Wölfe sprach. Faith blinzelte irritiert, da sie ihm gerade nicht folgen konnte. Am Ende musste sie schnauben. «Sie essen aber nicht sich selbst», war ihre eiskalte Antwort, während sie sich die Arme rieb.
«Ich hab überhaupt keine Ahnung, wovon sie da gerade reden.», gab sie dann doch zu. Ein wenig Neugier verspürte sie schon, doch viel mehr war sie genervt und gereizt. Sie hatte keine Ahnung, ob der Arzt gerade von echten Wölfen sprach oder von Wandlerwölfen.
Sie wusste so gut wie gar nichts über Wandler, abgesehen davon, dass sie einer war. Dafür war sie deutlich besser darin zu erahnen, wann es so weit war sich unsichtbar zu machen und abzuhauen. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen sich freiwillig in der Klinik zu verwandeln. Wenn der Wolf aus ihr herausbrach, verbarrikadierte sie sich, so gut es ging in der Toilette. Leider wusste sie nicht sicher, ob ihre Barrikaden so hilfreich waren, wie sie glaubte. Oft erinnerte sie sich nicht mehr an das, was nach der Verwandlung geschah. Entweder wachte sie wieder in ihrem Bett auf oder saß inmitten von Trümmern. Dennoch war sie überzeugt, dass sie Barrikaden zumindest ein wenig halfen. Anders wäre bestimmt längst ein Unglück geschehen.
Während sie sich immer weiter in diese Gedanken vertiefte, bemerkte sie, dass das Entlassungsthema irgendwie weit in den Hintergrund geschlittert war. Sicher ein Trick des Psychiaters! Doch sie würde das nicht so stehen lassen. «Ich tue alles was sie verlangen, damit ich entlassen werden kann. Nur will ich mich hier nicht verwandeln! Vielleicht kann ich mich, sobald ich draußen bin, wieder langsam meinem Wolf annähern. Doch hier fühlt sich das falsch an, schließlich bin ich eingesperrt. Außerdem bekomme ich Hilfe, sobald ich draußen bin und ich komme auch regelmäßig zu den Therapien her. Bitte, ich will doch nur nicht eingesperrt sein!», verlegte sie sich nun doch aufs Betteln. Vielleicht würde sie doch Medikamente schlucken, solange sie nur mit Zero gehen konnte.
Gerade hatte er sich noch Sorgen gemacht, ob er es mit seiner Teilverwandlung zu weit getrieben hatte, da bemerkte Adam, wie schnell Faith sich wieder fasste. Nur schien sie leider erneut in eine Abwehrhaltung über zugehen. Etwas, was in ihm den Verdacht auslöste, dass deutlich mehr dahinter steckte. Tatsächlich waren sie hier an einem Punkt, den er gut abwägen musste. Würde er das Gespräch fortsetzen, könnte er sie zu sehr bedrängen. Sollte er jedoch einfach abbrechen, konnte es gut sein, dass sie sich bevormundet, übergangen und nicht Ernst genommen fühlte. Er versuchte wieder einen Mittelweg zu finden.
Er entschied sich zunächst, aus einem von zwei Themen zu wählen: «Ich habe bisher nur von seltenen Fällen gehört, in denen ein Wolf einen anderen tötet. Das betrifft in der Regel nur Welpen, die nicht überlebensfähig sind. Menschen töten sich gegenseitig aus vielerlei Gründen. Weshalb hast du mehr Angst vor deiner tierischen Seite, als vor deiner menschlichen? Was ist dir passiert?» Nun war er doch direkter geworden, als er beabsichtigt hatte.
Faith starrte den Arzt so intensiv an, dass sie sich daran erinnern musste zu blinzeln, damit ihre Augen nicht schmerzten. Sie hatte diese Information mit den Jungen nicht gewusst – dass Menschen Morde begingen, war ihr allerdings nicht neu!
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und sie biss die Zähne zusammen. Ihre Schuldgefühle schnürten ihr die Kehle zu. Warum konnte er nicht aufhören? Es gab sicher genug andere Menschen und Wandler denen er helfen konnte. Warum musste sie auch noch darüber sprechen – denken – und träumen? War es nicht genug, dass sie ihren eigenen Tod nicht mehr als ausgleichende Gerechtigkeit einfordern wollte?
Adam merkte wie sehr seine Frage sie bedrängte, weshalb er weitersprach, damit der Druck zu Antworten nicht mehr so groß war. «Schön, dass du mittlerweile mehr Kontakte in der Wandlerwelt geknüpft hast. Du sprichst davon draußen mehr Kontakte zu haben. Ich könnte mir vorstellen, dass Zero dich ebenfalls bei deiner Wandlung unterstützen würde. Ich könnte euch die Turnhalle auch für zwei Stunden reservieren, wenn dir das helfen würde?»
Das Angebot war gar nicht mal schlecht. Ein kleiner Teil von ihr bewunderte sogar den Einfallsreichtum des Psychiaters. Doch er hatte schlichtweg keine Ahnung, wo das Problem lag. Zudem schaffte sie es nicht mehr, sich zusammen zu reißen, weil er immer so sanft und einfühlsam mit ihr sprach. Das hatte sie nicht verdient.
«Ich bin hier nicht das Opfer! MIR IST NICHTS PASSIERT! Ich bin… ich bin…», ihre Lippen bebten und wollten die Worte nicht richtig herausbringen. Gleichzeitig zitterte sie vor Wut, weil er sie so weit gebracht hatte, etwas zu sagen.
Hilflosigkeit, Schuld, Schmerz – alles prasselte auf sie ein. Mit einem Schrei sprang sie auf die Füße und stieß die Glaskaraffe mit dem Wasser zu Boden. Die Scherben scherten sie nicht, als sie aus dem Zimmer stürmte. Nicht nur das die Erinnerungen an Toby sie bestürmten. Nein – sie hatte auch den gewaltigen Drang, ihre Zähne in den alten Mann zu schlagen, der ihr doch nur helfen wollte. Er glaubte, sie wäre ein zahmes, unbeholfenes Opfer. Dabei war sie nichts anderes als ein Monster!
In ihrem Zimmer angekommen, kletterte sie in ihren Schrank und versteckte sich unter ihren aufgehangenen Kleidungstücken. Sie hatte alles zerstört! Jetzt würde sie niemals zusammen mit Zero entlassen werden.
Der Knoten war geplatzt – das war nicht das Ende, welches Adam sich erhofft hatte. Er hatte zu viel Druck aufgebaut. Vielleicht sollte er ihr nachgehen und noch einmal mit ihr sprechen? Nein, dass würde nur sein Gewissen beruhigen, ihr jedoch nicht helfen. Er kniete sich nieder und las die Scherben auf, während er in Gedanken jemanden vom Pflegepersonal informierte, dass diese auf Faith achten aber sie nicht bedrängen sollten, da sie eine schwierige Sitzung mit ihm gehabt hatte.
Es gab noch viele Gedanken zu ihrem Gespräch, die er notieren wollte. Überlegungen und Sorgen kreisten in seinem Kopf. Doch wie es das Leben so wollte, bekam er keine Zeit diese aufs Papier zu bringen. Er wurde zu einem dringenden Problem gerufen …