Sidestory
Kapitel 1
Rage
Wenn der Schmerz sich nur noch in Wut äußern kann.
Er war jenseits von Gut und Böse – denn jetzt war ihm wirklich alles egal! Schon immer hatte er ein Wutproblem gehabt. Doch heute, versuchte er nicht einmal sich zu zügeln.
Als ihm die Polizisten die Nachricht überbracht hatten, war er getürmt. Er hatte kein richtiges Ziel. Doch durch die Lage ihrer Wohnung hatte er nur durch ein paar Gassen gemusst, bevor er auf den Straßen der Innenstadt landete.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ihn irgend so ein Nazi auf seine ausgefallene Schminke ansprach und ihn «Schwulette» nannte. Genau was er gebraucht hatte.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, drehte er sich um und schlug auf den bildungsfernen Intolleranzling ein, als gäbe es kein Morgen mehr. Vielleicht gab es das auch nicht!
Besagte homophobe Mistratte war anfangs viel zu überrascht, um sich zu wehren. Doch sobald er sich gefasst hatte, packte er V und schleuderte ihn zu Boden. Dieser war jedoch ziemlich flink. Er rollte sich zur Seite und griff einen Stuhl und warf ihn nach dem Kerl. Nur nebenbei bemerkte er die Protestlaute, der Gäste des Eiskaffees, von dem der Stuhl stammte.
Leider hatte er so viel Schwung genommen, dass er den Halt verlor und ebenfalls gegen den Typen krachte. Ein lautes Krachen und das Geräusch von zersplittertem Glas zeigte, dass das Ladenfenster von Fashiondaily definitiv aus dem billigsten Material war.
Man konnte sich denken, wie schnell die Bullen am Tatort waren. Natürlich war das Fenster nicht mehr zu retten und der Schwulenhasser schob jede Schuld von sich, behauptete sogar V hätte angefangen. Das hatte ihn zum Rasen gebracht.
Eigentlich war er kein Patient für die Klapse. Doch er hatte wirklich geglaubt, sich der Festnahme entziehen zu können, indem er eine große Glasscherbe packte, und drohte sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Lange Rede kurzer Sinn – er saß nun blutend im Streifenwagen und hoffte diesen wenigstens ordentlich voll zu bluten. Sicher hatte er die Dienstkleidung der Polizistin total versaut. Mit etwas Glück war es bis auf ihre Unterwäsche durchgeblutet.
Zumindest war es dass, an was er sich erinnerte. Jetzt wo er durch die Türen mit der Aufschrift «psychiatrische Klinik» geschleift wurde, kam er sich nicht mehr so schlau und siegreich vor. Erst recht nicht, wenn man sich diese Türen genau ansah. Das waren keine, die man von selbst öffnen konnte.
Die Ärztin, die ihn gerade noch genäht hatte, hatte so getan, als würde er nach der Prozedur auf die Polizeiwache gebracht werden. Niemand hatte etwas von geschützter psychiatrischer Abteilung gesagt! Sie hatten ihn einfach verarscht!
Der Teenager wehrte sich mit Leibeskräften gegen die Pfleger, die ihn ohne mit der Wimper zu zucken weiter schleiften. Nach der ganzen Randale sollte der Junge doch so langsam müde werden.
Im Gegenteil – die ganze Situation schien ihn nur noch weiter aufzuputschen und mittlerweile verstand niemand mehr, welche vulgären Schimpfworte er rief. Doch dass er ihnen allen Sex, wahlweise mit sich selbst oder ihrem Knie, empfahl, hatte man schon mitbekommen. Kein Wunder, dass schnell die Diskussion im Raum stand, welcher Arzt Dienst habe und wie zügig man eine Erlaubnis bekäme, ihn zu fixieren.
Nein! Da wollte Vaughn definitiv nicht länger zuhören. Er ließ sich in den Strom seiner tierischen Gefühle fallen, um eine Teilverwandlung zu nutzen. Nur einen Augenblick später warf er sich erneut in den Griff, der ihn Festhaltenden. Ein überraschter Laut entwich ihren Mündern. In ihren Händen blieben schwarze Federn zurück.
V war zu diesem Zeitpunkt schon viel weiter gerannt. Eine weitere Tür, die nach Ausgang aussah, erschien vor ihm und er versuchte sie zu öffnen. Doch selbstverständlich war sie verschlossen. Da er keine Zeit hatte, lief er schnell weiter in den nächsten Raum mit offener Tür. Ein großer Gemeinschaftsraum lag dahinter. Der Teenager ignorierte die anwesenden Patienten und begab sich sofort zu den Fenstern – ebenfalls verschlossen! Frustriert schlug er dagegen. Bis sich seine Wut auch auf die Möbel in seinem Umkreis bezog. Stühle, Bücher, Tassen – alles, was er zu greifen bekam, flog durch die Gegend.
Die meisten Patienten flüchteten schnell. Doch manche bekamen Panik und versteckten sich schreiend unter den Tischen.
«Geht das etwas leiser? Du machst die Psychos ganz verrückt. Etwas Rücksicht auf die kranken Leute hier.», erklang die genervte Stimme eines Mädchens. Vermutlich war es die Art und Weise, wie sie es sagte, oder es lag einfach daran, dass sie umwerfend schön war. Doch er hörte sofort auf zu randalieren.
Das schwarze, lange Haar war der jungen Frau ins Gesicht gefallen, als sie ihre Fußnägel mit einem Filzstift schwarz anmalte. Auf der Station war ein Tumult ausgebrochen. Schon bevor der Junge mit den schwarzen, an eine Emo-Frisur erinnernden, Haaren in den Gemeinschaftsraum gestürmt kam.
Sie war derweilen ruhig sitzen geblieben und sah nun zwischen ihren langen Strähnen zu ihm auf. Vielleicht hätte sie nichts sagen sollen. Sie selbst war eine eher schwächliche Gestalt. Zwar wirkte der Andere auch nicht gerade wie ein Kraftpaket, dennoch würde er sie sicher locker umnieten können.
«Wenn du dich nicht beruhigst, dann spritzen sie dir was und fixieren dich danach. Kann ich nicht empfehlen, falls du ernsthafte Fluchttendenzen hast», fügte sie deshalb leiser hinzu. Sie konnte schon hören, wie die Pflegekräfte anrückten.
Vaughn hatte sie vollkommen überrascht angestarrt. Klappernd ließ er die Tasse zu Boden fallen, die er noch in der Hand gehabt hatte. Der Henkel platzte sofort ab.
«Ach die Damen und Herren haben vorhin schon entschieden, dass sie mich festzurren, wie du gesagt hast. Da hatte ich noch nicht einmal losgelegt. Deshalb kommt dein netter Rat ein wenig zu spät.», sagte er doch leicht angefressen und mit immer noch atemloser Stimme.
Da nun tatsächlich die Pflegekräfte um die Ecke kamen, versuchte er es mit seiner alten Taktik. Er riss die Arme hoch und meinte: «Jungs … Jungs … und Frauen. Alles okay ich hab mich beruhigt … Alles nur ein Missverständnis. Sorry…»
«Pick Ihnen die Augen aus!», schoss es ihm bei den Worten jedoch durch den Kopf.
Nun – egal was er sagte oder dachte, es war zu spät. Er bekam eine Art Injektor an den Oberarm gesetzt. Es gab einen kurzen Pieks – und eine wohltuende Welle der Entspannung ergriff, sowohl von seinem Körper als auch seinen Geist, besitz. Warum hatte er sich noch einmal dagegen gewehrt? Das Zeug war toll!
Links stützte ihn eine Schwester, auf ihrem Namenschild stand Perks, rechts half ihm ein Pfleger. Dieser sah nicht glücklich aus. Doch sie führten ihn unterstützend zu seinem Zimmer, wo er sich aufs Bett legen konnte. Schon witzig, dass er jetzt vollkommen entspannt zusah, wie man ihn festband.
Er konnte nicht sagen, wie lange er im Bett vor sich hingedämmert hatte, als er aus den Augenwinkeln eine schwarze Haarmähne an der Tür vorbei wehen sah. «Na, bist du gekommen, um mir deine Schadenfreude unter die Nase zu reiben? Kannst du ruhig. Du hattest ja recht, aber ich denke, das war es trotzdem wert», rief er ein wenig lallend. Hoffentlich war sie wirklich vorbei gelaufen, sonst sprach er gerade sinnlos mit der Wand und wenn das Jemand mitbekam, behauptete man noch er würde Stimmen hören!
Faith hatte bei seinen Worten nur mit den Schultern gezuckt und sich weiter ihrer Körperkunst gewidmet. Natürlich hatten dessen Behauptungen bei der Pflege nichts mehr gebracht.
Als die meisten Patienten wieder beruhigt waren, und eine Schwester begann den Raum aufzuräumen, nutzte sie den Moment, um aus dem Zimmer zu schlüpfen. Neben dem Aufenthaltsraum war gleich das Schwesternzimmer – daneben ein kleiner, offener Raum für Sonderfälle. Dort befand sich der Neuzugang, ans Bett fixiert und Faith schlüpfte leise auf ihren nackten Füßen hinein. «Schadenfreude ist unter meinem Niveau», erwiderte sie und fuhr mit den Fingern an der Fixierung seines Handgelenks entlang. Dort fand sie das kleine Patientenbändchen, auf welchem sie seine Kürzel lesen konnte.
«Soso – ein Suzidaler also. Wofür steht V? Valentin? Viktor?», fragte sie neugierig. Da er dasselbe Kürzel wie sie auf dem Bändchen stehen und einen Verband am Unterarm trug, war das für sie eine logische Schlussfolgerung.
Nur wie er hieß und warum er so ausrastete, war ihr noch ein Rätsel. In der Regel waren Suizidgefährdete nicht so aufbrausend, sondern eher das Gegenteil. Viele waren so leise und nur auf ihrem Zimmer im Bett, dass Faith sie erst gar nicht bemerkte.
Sie setzte sich auf Vs Bettkante und fing an, ziemlich dreist, seine Fingernägel zu bemalen. Edding konnte man schließlich auch wieder abwaschen, mit etwas Mühe. «Weißt du, ich bin schon ein paar Mal abgehauen, aber wenn ein Psychowandler ausbüxt, wird gleich die halbe Stadt informiert, sodass man nie weit kommt. Der beste Weg hier raus zu kommen ist, so zu tun als wärst du gesund», klärte sie ihn sachlich auf.
Das Mädchen war nicht nur lustig, sondern auch schlau. Eine gute Kombination, wie er fand. Sicher wäre sie eine tolle Freundin – gut ja eine Liebesbeziehung mit ihr wäre bestimmt cool – er hatte jedoch an eine ganz normale Freundschaft gedacht. Wobei normal ein sehr gedehnter Begriff für ihn war.
Die schwarzen Nägel gefielen ihm. «Sieht cool aus mit den Nägeln. Bekommt ihr keinen echten Nagellack hier oder hält Edding besser?», fragte er leicht neugierig und doch mehr des Smalltalks wegen.
Bei dem Wort Suizidaler, war er zusammen gezuckt. «Ach, steht das da? Ich bin nicht suizidal, ich bin dumm! Weil ich keine Lust darauf hatte festgenommen zu werden, dachte ich, ich käme mit einer Selbstmorddrohung und einer Scherbe davon. Du kannst es erraten, die Beamten waren genauso sympathisch wie mein Eintrittskomittee hier. Aber ich wollte natürlich nicht als Lügner dastehen, also hab ich es durchgezogen», er lachte am Ende leicht wegen seines Wortwitzes.
«Die kennen anscheinend meinen Spitznamen – sehr cool. Ich heiße Vaughn … aber diesen Namen finde ich nicht so prickelnd. Meine Freunde nennen mich V und du kannst dich gerne dazu zählen. Ich vermute, die Klinik ist cooler als ein Gefängnis. Nur wäre ich im Gefängnis vermutlich nicht angekettet. Doch da das alles hier ein Missverständnis ist, werde ich sicher ganz schnell entlassen», fuhr er fort. Ob er sich das nur einredete oder ob er tatsächlich davon überzeugt war, ließ sich schwer sagen. «Du wirkst auf mich ziemlich schlau. Zudem hast du es mehrfach geschafft, hier auszubüchsen. Ich gebe zu, an die Jagd danach, habe ich nicht gedacht. Eigentlich habe ich ohnehin nichts Besseres vor als hier zu liegen und eine Pediküre zu genießen», scherzte er nun deutlich lockerer.
Als der Junge seine Geschichte erzählte, konnte sie nur eine Augenbraue heben. Dabei sprach ihr Gesichtsausdruck Bände: Das ist jetzt nicht dein Ernst oder? Sie schüttelte den Kopf. «In der geschützten Abteilung kriegst du so gut wie gar nichts. Kein Handy-Ladekabel, kein Nagellack, kein Wasser in Glasflaschen, kein scharfes Besteck, keinerlei giftige Substanzen oder irgendeine Art von Schnur. Selbst mein Shampoo muss ich mir fürs Duschen abholen und muss es nachher zurückgeben. Irgendjemand kam wohl mal auf die Idee das zu schlucken. Wie derjenige das runtergekriegt hat, frag ich mich allerdings heute noch», klärte sie ihn schnell auf. Nicht das er noch auf die Idee kam sich hier in einem Hotel zu befinden. Natürlich lackierte sie ihm weiterhin die Nägel. Dadurch bekam er einen lässigen Emostyle.
Auf seine Erklärung hin hob sie wieder eine Augenbraue, bevor sie leise lachte. «Um einer Festnahme zu entgehen, hast du dir die Pulsadern aufgeschlitzt? Geniale Aktion. Ob du hier jetzt besser dran bist, als im Knast ist jedoch noch fraglich. Vor allem – ich könnte mich irren – aber entweder wirst du als unzurechnungsfähig für deine Straftat geschrieben, dann willkommen als Dauergast, oder du kommst hier raus und direkt in den Knast hinein. Also gerettet hat dich das definitiv nicht», bewertete sie seinen Masterplan. «Nun, zumindest wäre die Größe deines Egos schon einmal geklärt. Wer so etwas durchzieht, weil seine Drohung nicht funktioniert hat … krass!»
Ob sie schon einmal darauf angesprochen worden war, dass sie zu direkt war? Nun das könnte schon einmal vorgekommen sein. Doch V schien es ihr nicht übel zu nehmen. Auf seine Schmeicheleien reagierte sie jedoch abwehrend: «Na ja, so schlau jetzt auch wieder nicht. Sonst wäre ich nicht mehr hier. Doch was will man machen? Inzwischen hab ich mich auch wirklich gebessert. Vielleicht darf ich bald auf freien Fuß. Aber mal so eine Frage …V … wie stoned bist du?» Mit einem verschlagenen Grinsen im Gesicht ließ sie den Stift unheilverkündend vor seiner Nase herumwackeln. «Ich könnte dir noch einen Schnurrbart malen?», gab sie ihre Absichten kund.
Was? Es war so anstrengend an all dieses Zeug zu kommen? «Also kommt man hier auch nicht an Zigaretten? Ist das nicht ein Menschenrecht?», beschwerte er sich frustriert über die Strenge in diesem Psychoknast. Auch ihre weiteren Worte ließen ihn vermuten, dass er sich zu früh gefreut hatte. «Tja ich bin halt ein Mann, der zu seinem Wort steht!», meinte er stolz und belächelte sich eher weniger glücklich dabei. Es war definitiv einer seiner schlechteren Einfälle gewesen. «Zu meiner Verteidigung, das war nicht geplant und ich bin natürlich unschuldig!», fügte er schnell hinzu. «Gut, es war insgesamt eine scheiß Aktion. Ich glaube kaum, dass man für unbeabsichtigten Vandalismus und einfacher gegenseitiger Körperverletzung in den Knast kommt. Die Dame von der Polizei hat mir zumindest mitgeteilt, dass der Kerl mit dem ich mich geprügelt hab, gar keine Anzeige erstattet hat. Nun okay, dann kommt noch die Scheibe von dem Laden, die wir zertrümmert haben, doch die bezahlt doch sicher irgendeine Versicherung? Also hätte ich wohl nur ein paar Stunden bis zu einem Tag im Knast verbracht. Zusammenfassend könnte man sagen: Ich habe grandios überreagiert. Aber hey, wenigsten hatten alle ihren Spaß dabei», schloss er seinen etwas wirren Bericht mit kleinen Tatsachenabweichungen ab. Er war sich sicher, dass er selbst keinerlei Versicherung hatte. Wer wusste schon, wer seinen Aufenthalt hier bezahlte. Pflichtversicherung?
Auf Therapiestunden hatte er überhaupt keine Lust. Schon gar nicht wollte er mit irgendsoeinem Seelenklempner sprechen. Was ein schwarzer Tag! Kein Wunder, er hatte scheiße angefangen und würde scheiße enden.
Gerade wollte er in seinem Selbstmitleid versinken, als sie mit dem Stift vor seiner Nase herumfuchtelte. Er hob eine Augenbraue und meinte recht trocken: «Sagen wir es einmal so: Ich glaube, ich könnte nicht mehr gerade laufen. Doch zum Glück bin ich ja in diesem Luxusbett angeschnallt. Nur … ich bin mir ziemlich sicher, dass ich immer noch beißen kann! Ich finde zwar, dass mir Bart und Augenklappe stehen würden, aber meinst du nicht sie könnten dann demnächst alle Eddinge beschlagnahmen auf Grund von niederschwelligem Mobbing oder so?»
Was es wohl bedeutete, dass sie sich gebessert hatte? Klang stark nach 0815 Erziehungsanstalt. Ob er sie danach Fragen konnte? Er brauchte einen Moment, bis er es vorsichtig versuchte: «Aha … Dass heißt du hast dich gebessert, oder du bist besser darin geworden zu tun als ob? Darf man fragen, warum du in dieses Hotel eingecheckt hast?»
Faith musste husten. «Zigaretten? In welchem Paralleluniversum lebst du?», stimmte sie ihm amüsiert in seiner aussichtslosen Annahme zu und schüttelte den Kopf. Mit einer gewohnten Handbewegung strich sie die schwarzen Strähnen hinter ihr Ohr und musterte den Jüngeren aus ihren blassgrauen Augen. Ein Mann, der zu seinem Wort stand? Das war Zero auch …
Sie senkte den Blick und für einen Augenblick zerfraßen die Sorgen wieder ihre Seele. Dabei wusste sie, dass dies weit hinter ihr lag und dennoch … manche Erinnerungen verblassten nie.
«Sind wir nicht alle unschuldig», meinte sie leicht scherzend. «Mit Scheißaktionen kenne ich mich sehr gut aus», tröstete sie ihn dann doch ein wenig. Seine Tat war wirklich ziemlich unbedeutend. Dafür hatte er extrem überreagiert. Wer dabei wohl den Spaß gehabt haben sollte, war für sie fraglich. «Nun Spaß kannst du hier auch haben. Hier gibt es zwei verschiedene Patienten mit Halluzinationen und Stimmenhören oder so, wenn du es schaffst sie zusammen zu setzen, entwickeln sich sehr interessante Gespräche. Zum Beispiel wie die Regierung angeblich ein Virus erfindet und alle Menschen glauben lässt, dass wenn sie keinen Mundschutz tragen und einen gewissen Abstand zu anderen Menschen halten für einige Wochen, dann könnten sie sterben, weil diese Grippeart so schlimm ist, dass man nicht mehr atmen kann. Sie faken extrem aufwändig überfüllte Krankenhäuser, Leichensäcke und weinende Angehörige nur damit man ihnen glaubt und sich an diese Regeln hält. Wenn sie damit anfangen musst du einfach irgendwann entsetzt und beeindruckt fragen, was die Regierung denn mit diesem erfundenen Virus bezwecken will. Wenn es ein echtes wäre, könnten sie ja Länder oder gewisse Personenkreise vernichten. Aber so machen sie einen riesen Aufwand für eine Lügengeschichte, die ihr nur heftige finanzielle Verluste und den Hass der Menschheit bringt. Finde ich ja nicht sehr profitabel, aber die beiden haben eben voll den Durchblick und sind die Schlausten. Dann gibt es noch einen weiteren Dauergast. Ich hab sie Pamela getauft, denn sie sagt einem nie ihren Namen aber sie schreit dich immer an, dass du zu laut atmest, läufst, mit der Serviette raschelst und manchmal ist es vermutlich auch dein Herzschlag, der sie in den Wahnsinn treibt. So meine Theorie», erzählte sie voller Sarkasmus in der Stimme. Dabei war es wirklich nicht gelogen. Es gab ein paar Patienten, die so drauf waren und wenn man ehrlich war, zu bemitleiden waren. Doch es gab auch die normal Durchgeknallten wie sie und Vaughn.
«Hmm du kannst beißen? Was für ein Tier bist du denn?», fragte sie interessiert. Sie hatte schon versucht, ihn zu wittern. Doch das einzige was sie von ihrem Wolf wahrnahm, war die Erkenntnis das er ungefährlich und somit wohl kein Raubtier war. Zumindest nichts Gefährlicheres als sie selbst, denn ansonsten würde sie Furcht verspüren.
«Aber gut, du hast recht. Dann doch lieber kein Bart. Ich mag meinen Edding wirklich gerne und will wirklich nicht als Mobberin abgestempelt werden», scherzte sie und betrachtete noch einmal kurz ihre eigenen schwarzen Fingernägel. Diese passten gut zu ihrem Look. Sie trug ein schwarzes Top und schwarze Leggins. Zusammen mit ihren dunklen Haaren gab ihr das einen sehr finsteres Aussehen.
Nun warum war sie hier? «Im Gegensatz zu dir bin ich wohl ein echter Psycho. Nicht das ich Halluzinationen oder so hätte. Nur hab ich definitiv keine weiße Weste mehr. Mangelnde Kontrolle über mein Wandlertier ist momentan wohl noch mein Hauptproblem und der Grund, wieso ich nicht raus darf. Eingecheckt hab ich hier dank suizidaler und selbstverletzender Absichten. Hmm man könnte es so ausdrücken: Typen, die andere Kerle durch Scheiben werfen, waren ein echter Magnet für mich. Leider haben sie wohl ab und an auch Frauen durch Scheiben geworfen», meinte sie am Ende amüsiert und spielte ihre Probleme somit deutlich runter.
Für V schien es für einen Moment so, als würden Faith einige schwere Steine auf den Schultern liegen. Ihr konnte gerade nichts Gutes durch den Sinn gehen. Bevor er sich jedoch entscheiden konnte, sie darauf anzusprechen, begann sie wieder mit ihm über etwas eher Belangloses zu reden. «Hmm Verschwörungstheorien? Lecker, da macht man doch als Wandler gerne mit. Ich meine, wenn du bedenkst, dass wir vielleicht von korrupten Politikern gezüchtet wurden, um Feinde zu unterwandern?», sprang er auf den Gesprächsverlauf an. Natürlich meinte er es genauso wenig Ernst wie Faith. Dennoch konnte er sich vorstellen, dass so etwas tagtäglich extrem die Nerven belasten konnte. Jeden Tag dieselben trostlosen Gesichter zu sehen und dann gab es nicht einmal Zigaretten … super!
Über ihre nächsten Worte wunderte er sich tatsächlich kurz. Er nahm es immer für selbstverständlich, dass er das Wandeltier seines Gegenübers gut wahrnehmen konnte. Vielleicht war etwas daran, dass man sagte Raben seien schlau und trickreich. Denn in der Regel musste er sich kaum darauf konzentrieren, um diese Informationen zu bekommen. Bei Faith Worten jedoch, schnaubte er. «Das gefährliche Raubtier, was dich beißen würde, wäre ein Mensch! Ein sehr gefährliches Tier! Es steht zwar in der Nahrungskette auf derselben Stufe, wie eine Nacktschnecke und doch hat es die ganze Erde bevölkert und einst sogar ein Überbevölkerungssterben ausgelöst. Mit Hilfe von sogenannten Waffen kann es beinahe alles töten. Menschen gelten als besonders aggressiv, da sie sich nicht selten untereinander umbringen. Ein Biss infiziert sich sehr schnell und ist schwer mit Antibiotika in den Griff zu bekommen. So kann er bei bestimmten Umständen sogar zum Tod führen», sagte er mit bitterernster Stimme. Somit ließ sich schwer sagen, wie ernst er das Gesagte meinte. Doch wenn er ehrlich war, zählte er sich schon zu den Menschenhassern. An Menschen gab es einfach nichts Gutes.
Doch er entspannte sich wieder etwas, als er von ihrem Problem mit ihrem Wandeltier hörte. «Nun ich hab Glück. Ich bin ein Rabe und mit dessen Kontrolle habe ich eigentlich kaum Probleme. Aber dafür hab ich, wie du gesehen hast, einige Probleme mit der Wutkontrolle meiner menschlichen Seite. Also könnten wir sagen, wir sitzen vielleicht nicht im selben Boot, aber im Boot der gleichen Marke und Farbe. Ich verstehe allerdings überhaupt nicht, warum Typn wie ich ein schlechter Umgang sein sollten. Ich bin ganz zahm … zumindest solange man mich zudröhnt und an ein Bett fesselt. Na gut, ich gehöre vielleicht doch hier her. Ich weiß, dass diese verdammte Wut nichts bringt. Doch wie sagt man … sie kontrolliert mich … nicht ich sie», seufzte er am Ende und schaute frustriert zur Decke. Dann schien ihm etwas einzufallen. «Was ist denn mit deinem Rudel? Können sie dir nicht helfen? Wölfe kommen doch eigentlich nie allein daher?»
Bei seinen Worten über das gefährliche Raubtier musste sie erst die Stirn runzeln, dann kurz lachen. Doch sie hatte sich schnell wieder im Griff und nickte ernst. «Ich verstehe … das ist ein schwerwiegendes Problem», sie hatte vor wie eine Psychologin weiterzureden, doch sie musste immer wieder lachen. «Auf der gleichen Stufe wie eine Nacktschnecke? Geil! Du solltest so ein kritischer Journalist mit eigener Kolumne werden. Für solche Texte würde ich wirklich mal eine Zeitschrift kaufen», meinte sie ehrlich. Sie fand es einfallsreich, wie er die Spezies Mensch beschrieben hatte – gleichzeitig kritisch und ironisch-spaßig zugleich.
Trotzdem interessierte sie nun noch brennender was er war. Zum Glück beantwortete er diese Frage. Ein Rabe – da wurde sie doch glatt ein bisschen neidisch. Es waren in ihren Augen wunderschöne Vögel und fliegen zu können war ein absoluter Wunschtraum von ihr. Mit ihren Pfoten war sie jedoch, wie auch als Mensch, an den Boden gefesselt. Genau wie Zero …
Sie lenkte sich schnell ab, indem sie auf seiner Beteuerung ein zahmer Typ zu sein, antwortete: «Wer weiß, vielleicht wäre ich auch der schlechte Umgang für dich.» Das war nicht unbedingt ein Scherz. «Rudel? Ich hab kein Rudel. Genau genommen hat mein Problem damit angefangen. Ich habe schon seit ich sieben Jahre alt bin niemanden mehr», erklärte sie, nur um sich gleich darauf zu fragen, warum sie ihm das alles erzählte. Sie wollte mit Sicherheit kein Mitleid.
Rasch drängte sie aufkommende Erinnerungen weg und sagte seufzend: «Ich wünschte, ich wäre ein Rabe. Einfach die Flügel ausbreiten und wegfliegen. Außerdem haben Raben ein wirklich schönes schwarzes Gefieder.»
Für Vaughn war es kaum vorstellbar, wie jemand so lange hier überlebte. Beziehungsweise in ähnlichen Einrichtungen und ständig in Psychotherapie. Vielleicht hatte er sie falsch verstanden? Er hoffte es, denn was würde es ansonsten für ihn bedeuten?
«Na, du scheinst jedenfalls dadurch selbst eine Art Therapeut geworden zu sein. Zumindest habe ich nun wieder Zukunftsaussichten. Ich könnte Kolumnist werden. Ich finde also, dass sie dir die Ausbildung oder das Studium, was auch immer man da braucht, Gutschreiben sollten. Schade nur das es keine Wandlerzeitschrift gibt. Die sollte es wirklich geben, nur kann ich mir nicht vorstellen, wie man diese geheim halten sollte. Es sei denn, man verkauft sie als eine Art Scherz. Die Muggle denken, es ist alles nur Quatsch und fragen sich, wer den Käse bezahlt», blieb er lieber wieder bei ihrem bequemen Gesprächsthema.
Doch egal wie sehr sie es versuchten den Ernst des Lebens auszublenden – er traf einen letztlich doch. Der Teenager seufzte schwer: «Man kann leider nicht allem davon fliegen.» Dennoch war die Vorstellung sehr schön. Nur musste man am Ende immer wieder am Boden landen. Es war unvermeidbar. Ein Wolf ohne Rudel war traurig und ein Vogel, der nicht flog ebenso. Sie waren schon ein jämmerliches Duo.
Diese tristen Gedanken ließen sich nicht so leicht abschütteln. «Ich glaube, es wird echt Zeit, dass du dem allen entfliehst. Wölfe gehören nicht eingesperrt! Wir lernen einfach diesen Trick, wenn man bis zehn zählt seine Wut zu verlieren und dann sind wir bald wieder frei. Andere scheinen dies auch zu können. Auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe wie. Spätestens bei drei bin ich noch explosiver als vorm Zählen. Also musst du mir beibringen, normal zu wirken», schlug er vor. «Wenn bei dir die Wut nicht mehr das Problem ist, was hindert dich noch? Als Wolf bist du unbesiegbar», fragte er vorsichtig nach und hoffte, dass er nicht zu weit ging.
Sie eine Therapeutin? Faith lachte innerlich, strich sich jedoch äußerlich nur eine Strähne hinters Ohr. «Das freut mich sehr Mister V. Sie sollten wirklich Zukunftsaussichten haben, die ihnen helfen auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Ansonsten fürchte ich, dass sie wieder ohne ihre Flügel abheben. Harry Potter ist wirklich veraltet und nicht mehr in. Der Begriff Muggle ist zudem politisch inakzeptable. Man nennt dies heute Menschen aus magischfernen Erziehungsschichten», scherzte sie ebenfalls weiter. Schließlich war Harry Potter ein zeitloser Bestseller.
Einen Moment schwiegen sie – beide scheinbar in düsteren Gedanken verloren und als sich dann auch noch Schritte auf dem Flur näherten, erstarrte sie und lauschte. Die Person schien ins Schwesternzimmer gegangen zu sein. Auf dem Gang erklangen zumindest keine Geräusche mehr. Manchmal hatte die Wolfswandlerin generell das Gefühl besser zu hören als andere Menschen. Auch wenn sie ihre Fähigkeiten bewusst gar nicht einsetzte.
Als V wieder zu sprechen begann, rieb sie sich mit der rechten Hand über den linken Oberarm und senkte einen Augenblick lang den Blick. Solche wie sie, gehörten ihrer Meinung nach sehr wohl eingesperrt. Es war egoistisch von ihr, dass Krankenhaus verlassen zu wollen, nur um frei zu sein. Jetzt hatte sie sich zwar im Griff, doch das war keine Garantie, dass es nicht wieder passieren würde.
«Sehe ich aus als wäre ich normal? Du fragst wirklich die Falsche um Hilfe. Ich bin nur die, mit den guten Kontakten und der Schmuggelware», meinte sie, nahm den Edding zur Hand und begann weiterzukritzeln. Die Handlung beruhigte sie und sorgte dafür, dass ihr aus dem Takt geratener Herzschlag, sich wieder einpendelte. «Ich hab keine Angst davor verletzt zu werden. Ich bin diejenige, die die Gefahr für Andere ist. Deswegen darf ich nicht raus», gestand sie dabei sehr leise. Zumindest war dies ihre Wahrheit.
Sie hatte genug Gründe um solche Angst vor ihrem Wolf zu haben, dass sie ihn so lange unterdrückte bis er mit Gewalt aus ihr herausbrach und nicht mehr zu kontrollieren war. Auf diese Weise konnte sie nicht einmal das Wandlergesetz wahren.
V schnaubte gespielt empört. «Ich glaube, ich brauche doch einen neuen Therapeuten. Die Chemie zwischen uns stimmt so überhaupt nicht. Harry Potter ist ja wohl eindeutig ein zeitloser Hit und wird niemals von der Spitze vertrieben werden. Aber sie haben schon recht. No Maj wäre vielleicht politisch korrekter. Alles andere ist doch viel zu lang, damit sich Normalintelligenzler wie ich dies merken können. Dennoch sollte ich an meiner Respektlosigkeit arbeiten, bevor ich den Politikteil meiner imaginären Zeitung übernehme», strickte er die Geschichte weiter.
Dass er Faith kennen gelernt hatte, war für ihn ein ziemlich großes Glück im Unglück. Man fand selten jemandem, mit dem man sich so gut unterhalten konnte und der einen verstand ohne, dass man die Dinge wirklich ansprechen musste. Dabei hieß es doch, dass Frauen immer alles Todquatschen wollten. Ein Irrtum wie es sich herausstellte.
Sollte er es tatsächlich vor ihr hier raus schaffen, würde er sie besuchen und den Kontakt halten. Wäre es andersherum, gäbe es für ihn auch kein Problem sie in ihrem Teil von Straelen zu treffen. Denn schließlich konnte er fliegen. Er hoffte nur, dass sie ihn nicht für Wochen oder Monate hier einsperrten. Gut – er hatte vielleicht Probleme. Doch sie waren definitiv nicht so gravierend, dass er hier ewig daran arbeiten musste.
Er fragte sich gerade, wie lange es dauern würde bis sich ein Arzt hier blicken ließ, da begann sie wieder zu reden. «Hmm, was muss ich denn tun, um bei dir Zigaretten zu bestellen? Ein Feuerzeug brauche ich nicht. Ich könnte dir einen neuen, gestohlenen Edding anbieten», schlug er direkt ein Geschäft vor.
Der Teenager ließ das Wolfsthema jedoch nicht ganz fallen und wählte seine Worte deutlich sorgfältiger, als er sagte: «Was auch immer passiert ist, ich glaube nicht, dass es wieder passiert. Wölfe sind keine bösen Geschöpfe. Sie werden nur von einigen Medien und Menschen verteufelt. Tatsache ist jedoch, dass ein Wolf in den seltensten Fällen angreift. Nur wenn er keine andere Wahl hat und in eine Ecke getrieben wurde, nimmt er die Flucht nach vorne. Eigentlich sind sie scheue und zutiefst unverstandene Geschöpfe. Noch viel wichtiger … sie sind wahnsinnig treu.» Seine Stimme klang bei diesen Worten nachdenklich. Wenn man genau hinhörte, gab es sogar einen leicht bewundernden Ton. Vielleicht wurde dieser jedoch von dem Mitgefühl in ihm überdeckt. Er konnte nicht wissen, was geschehen war. Doch so, wie sie sich verhielt, konnte es nur eine schmerzliche Vergangenheit sein.
Faith hatte schon wieder geschmunzelt. «Nun über einen zeitlosen Hit lässt sich streiten, aber sie haben natürlich jederzeit das Recht sich bei der Klinik zu beschweren und einen anderen Therapeuten zu verlangen. Doch ich warne sie: Ich bin als Einzige für meinen Humor bekannt!», scherzte die Dunkelhaarige weiter mit ihm. Eine Zeitung für Wandler – das wäre wirklich interessant.
Während sie sich vorstellte, wie er diese herausbringen könnte, malte sie mit dem Edding weitere Linien und Schnörkel auf ihre Haut. «Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht genau wie die Regeln hier mit dem Rauchen aussehen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass sie sowas einem Minderjährigen erlauben. Aber vielleicht kannst du bei anderen Patienten schnorren. Sobald du länger hier bist und dich gut besserst, kannst du auch für ein paar Stunden raus gehen. Dann könntest du welche organisieren. Doch du musst kreativ werden beim wieder reinschmuggeln. In die Schuhe stecken reicht nicht!», warnte sie ihn. «Hmm andererseits wirst du mit Fluchttendenzen sicher nicht so schnell Freigang bekommen.»
Seine Worte über Wölfe erstaunten sie ein wenig. Waren auch Wolfswandler so treu? Das hörte sie zum ersten Mal. Auch schien es als würde V diese Tiere richtig bewundern, oder bildete sie sich das ein? «Entschuldige, aber das trifft doch nur auf die echten Wölfe zu. Wandler sind ja nicht nur Tier. Unser menschlicher Anteil fällt genauso schwer ins Gewicht. Daher verhalten sich doch Wandler nicht so wie ihre Tiere oder? Sonst müssten doch auch Vögel im Winter den Drang haben auszuwandern bis zum Sommer?», fragte sie ernsthaft nach. Sie hatte leider zu viel unter Menschen gelebt und deshalb wirklich keine Ahnung.
Der Rabenwandler stutzte bei ihren letzten Worten. «Nein, falsch liegst du eigentlich nicht. Aber es ist doch so: Immer wenn wir uns wandeln, spüren wir die wahre Natur unseres Tieres. Lässt du dich einfach in den Strom der Gefühle fallen, übernehmen die tierischen Instinkte deinen Verstand. Das kann manchmal hilfreich aber genauso gut schlecht sein. Doch unsere wahre Natur können wir niemals verbergen. Ich könnte mir vorstellen das Zugvogelwandler im Winter wirklich die Sehnsucht empfinden, davon zu fliegen. Sicher bin ich mir da jedoch nicht, denn Raben fliegen nicht in den Süden», erklärte er, wie er über das Thema dachte, bevor er mit dem Wolfsthema fortfuhr. «Ich hab schon öfter gehört, dass Wolfswandler im Rudel bleiben und sich gegenseitig unterstützen. Aber es kann auch sein, dass dies nur Kindergeschichten waren, die mir erzählt wurden. Wenn man nämlich nach den Tieren geht, leben Raben auch in Schwärmen und ich dürfte somit auch nicht allein sein.» Er bekam immer mehr das Gefühl, dass ihr etwas Schreckliches geschehen war. Vielleicht schloss er aber auch nur von sich auf andere. Oder es lag daran, dass sie, genauso wenig wie er in die Gesellschaft zu passen schien.
Doch bevor er diese tristen Gedanken fortführen konnte, wurden sie dadurch unterbrochen, dass ein Arzt das Zimmer betrat. Zumindest wirkte dieser wie ein Psycho-Arzt aus Filmen – klopfte sogar an die offene Tür. Vaughn verkniff sich ein abfälliges Schnauben. Noch bevor der Arzt sich vorstellen konnte, hatten seine Augen das Schildchen an seiner Kleidung entdeckt: Dr. Goodwyn – Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie – klang ja fantastisch! Dennoch zwang er sich zu einem heiteren Ton. «Der Mann der Stunde! Super, dann können wir dieses schreckliche Missverständnis ja schnell klären. Sie haben hier eine supernette Lady. Mein Nachmittag ist dank ihr einmalig geworden. Ihre Kollegen jedoch waren etwas voreilig. Dieses bequeme Bett wäre gar nicht nötig gewesen! Wie sie sehen bin ich superentspannt und habe auch Faith schon von dem großen Missverständnis erzählt, welches mich hergeführt hat. Es ist wirklich nett hier, aber ich würde sehr gerne wieder auschecken. Ich entschuldige mich vielmals dafür, dass ich ihre Zeit verschwendet habe, denn ich habe wirklich nur die Polizei verarscht.», erklärte er mit seiner Meinung nach ziemlich überzeugendem Ton und einem gewinnenden Lächeln die Lage.
Ob der Arzt von der Ansprache überrascht war, ließ sich schwer sagen. Dieser wandte sich, zunächst Faith zu, statt ihm zu antworten. «Gib uns bitte einen Moment alleine», bat Adam Goodwyn die Patientin. Vaughn konnte wirklich nicht anders als bei dieser Aktion die Augen zu verdrehen und zu Faith zu sagen: «Jetzt wird es ernst. Das Schiff wird wirklich untergehen.» Dramatisierte er ihren Abgang. Seine Lage akzeptieren konnte er nicht. Vor allem nicht jetzt, wo ihn das Gefühl beschlich, dass der Arzt ihn nicht gehen lassen würde.
Tatsächlich hatte der Arzt ein wenig die Überraschung in seinem Blick verbergen müssen. Schließlich war Adam davon ausgegangen, dass er zu einem Patienten trat, der gerade einen Suizidversuch begangen hatte. Die Art des Teenagers amüsierte ihn jedoch ein wenig. Obwohl er sich sicher war, dass viel davon nur Show war.
Von der Polizei hatte er leider schon einiges über ihn gehört. Ein unbeschriebenes Blatt war er definitiv nicht und es würde vorerst auch nicht leichter für ihn werden. Offiziell hieß es, dass er nach der Behandlung dem Jugendamt anvertraut wurde. Auf Grund des Wandlergeheimnisses war dies natürlich nicht möglich und für einen Wandler eine neue Familie zu finden, war alles andere als einfach. Dennoch würde Adam alles tun was in seiner Macht stand. Doch Eltern wuchsen nun einmal nicht in seinem Garten.
Nachdem Faith mit einem vielsagenden Blick zu Vaughn und ihm gegenüber wortlos gegangen war, setzte er sich zu dem jungen Patienten ans Bett. «Habe ich dich gerade richtig verstanden? Du sagst also, dass der Suizidversuch vorgetäuscht war, um der Polizei zu entgehen? Denkst du, dass dies kein Verhalten ist, über das man einmal reden sollte?» Seine Worte wirkten streng, doch er hatte ein warmes Lächeln auf den Lippen und seine Stimme war eher sanft.
Es kam, wie es kommen musste. Wer hätte es nicht anders gedacht? Er lag auf einem Bett und war auch noch gefesselt. Also konnte er den einfühlsamen Worten des Seelenklempners nicht entgehen. «Ach Doc, ich weiß das war eine dumme Aktion. Es war wirklich eine … wie sagen sie das immer … Kurzschlusshandlung! Jetzt im Nachhinein ist mir natürlich klar, wie idiotisch das war und was ich alles damit angestellt habe. Aber sie müssen zugeben: Jeder weiß, dass man nicht an aufgeschlitzten Armen stirbt. Das sieht man in jedem Film», sagte er zu seiner Verteidigung.
«Das Leben ist aber nicht wie im Film. Es sterben durchaus Menschen an solchen Handlungen. Ich habe jedoch gehört, dass es nicht mal eben so zu der Situation gekommen ist. Willst du mir nicht davon erzählen? Ich kann dir natürlich erzählen, was man mir gesagt hat, aber dann weiß ich immer noch nicht, wie es aus deiner Sicht gewesen ist und ist diese nicht die Wichtigste?», fragte Adam vorsichtig nach.
V seufzte schwer und riss sich zusammen, um nicht noch einmal die Augen zu verdrehen. Am liebsten hätte er den Arzt angeschnaubt, dass er doch glauben sollte, was man ihm erzähle und es doch in Wahrheit scheiß egal war, was er zu sagen hatte. Ihm war jedoch bewusst, dass er mit diesem Verhalten niemals das bekommen würde, was er wollte: Dass man ihm vertraute, ihn hier abschnallte, und wenn man ihn nicht gehen ließ, zumindest die Möglichkeit zur Flucht bestand.
Also erzählte er seine Geschichte: «Nun, es ist einfach nicht zu verbergen, dass ich ein sehr attraktiver Kerl bin. Dies trifft natürlich auf Neid und manchen gefällt einfach gar nicht, wie ich mich schminke. Dazu kommt mein Style … das trifft manchmal auf Konfrontationen. Also kam mir genau so ein Typ entgegen – und glauben Sie mir, ich erkenne solche Typen auf einen Blick – und dieser pöbelt mich an. Hätte ich nicht angefangen, dann hätte er es. Ich wollte nur die Zeit dazwischen überbrücken. Zudem ist es immer besser, wenn man zuerst zuschlägt. Wenn man anschließend verliert, wirkt man am Ende immer noch mutig und cool. Jedenfalls schien ihm die Prügelei auch zu gefallen und im Eifer des Gefechts haben wir den Laden demoliert. Das war nicht unsere Absicht und wir haben uns beide entschuldigt. Dennoch musste ein unbeteiligter Rentner die Polizei rufen. Das war absolut unnötig und er hatte auch nichts mit der Sache zu tun. Gut, nun war es eben schon zu spät. Ich hatte jedoch wirklich keine Lust, stundenlang auf dem Revier über das Geschehene zu reden. Also dachte ich, wenn ich mit Suizid drohe, komme ich davon. Ich konnte ja nicht wissen, dass sie das voll ignorieren, und ich stehe eben zu meinem Wort. Ja … und verständlichweise bin ich hier ein wenig ausgerastet. Die Polizistin, die mich hier hergebracht hatte, hatte mir versichert, dass ich nur genäht werde. Also war ich stinksauer wegen dieser Lüge. Ich hab mich ehrlich schnell wieder beruhigt, aber ihre Leute haben mich dennoch einfach ausgeknockt und gefesselt!» Nun das es nicht ganz so abgelaufen war, musste keiner wissen und er fand, dass er auf diese Weise wirklich gut da stand.
Adam musste schmunzeln. Sein neuer Patient war ein ziemlich raffinierter Geschichtenerzähler und sah durchaus zufrieden aus mit seinem Bericht. Er wähnte sich wohl schon im Erfolg den brennenden Punkt sowie die wichtigsten Fakten umgangen zu haben. Der Psychiater konnte es ihm nicht verdenken. Wer würde nicht gern ein paar Stunden Pause haben, bevor er wieder entsetzliche Schmerzen spüren musste?
«Hmm ich habe das Gefühl, dass du öfter Probleme mit deiner Wut hast. Stimmt das?», fragte er nach. «Oder ist das nur heute so? Wegen dem, was vor der Prügelei geschehen ist? Willst du mir nicht davon erzählen?» Seine Stimme war immer sanfter geworden, während er sich vorsichtig zum wunden Punkt des 13-Jährigen tastete.
Vaughn musste feststellen, dass der Psychiater nicht so leicht nachgab, wie manch anderer, den er schon beschwatzt hatte. Natürlich wollte er nicht darüber reden! Was sollte diese ganze Scheiße? Warum wollten Erwachsene immer über alles reden? Als wenn reden alles wieder ungeschehen machte!
Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten und biss sich auf die Unterlippe. Stände er nicht noch unter dem Einfluss der Medikamente, wäre er vermutlich an diesem Punkt erneut ausgerastet. Wenn er sich nur konzentrieren könnte … sich verwandeln könnte, dann würde er einfach wegfliegen!
Pick ihm die Augen aus!
Doch so hatte er keine andere Wahl als stinksauer die Zimmerdecke anzustarren und im Kopf bis zehn zu zählen. Bei anderen klappte das doch auch! Er musste sich zusammenreißen. Das hier durfte er wirklich nicht vermasseln!
Mit viel Mühe bekam er wieder ein Lächeln auf die Lippen. «Nein, das sehen sie richtig. Ich habe schon immer Probleme mit meiner Wut gehabt. Aber hey, ich übe schon eine ganze Weile sie zu kontrollieren. Ich werde besser, versprochen. Ich brauche keine Hilfe und das hat auch nichts mit meiner Mum zu tun. Es war klar, dass sie es irgendwann wirklich durchzieht. Ich bin nicht blöd … diesmal hat sie es halt geschafft … Na und? Kann ich jetzt bitte gehen?»
Adam beobachtete, wie der Junge mit sich kämpfte, und er wünschte, er könnte ihm diesen Kampf abnehmen, oder ihm die Trauer erleichtern. Doch leider gab es nichts, was diesen tiefen Schnitt so schnell wieder heilen würde … wenn er sich je ganz schließen würde.
Das Lächeln im Gesicht von Vaughn, passte so gar nicht zu seinen schwarz gewordenen Augen, in denen der Rabe sich durchsetzte. Auch seine Stimme war nicht fröhlich, sondern voller Bitterkeit und Schmerz. Es musste eine Menge Wut in dem Jungen stecken, dessen Ursache nicht allein im Tod seiner Mutter zu finden war.
«Nein, du kannst nicht gehen. Sicherlich weißt du, dass ich abschätzen muss, ob du eine Gefahr für dich oder andere bist. Ich kann sehen, dass du an dir arbeitest und anderen nichts Schlechtes möchtest. Aber ich denke nicht, dass es gut für dich wäre zu gehen. Zudem wissen wir noch nicht, wo du ab jetzt leben wirst. Noch konnten wir keine weiteren Familienangehörigen finden und du kannst mit 13 Jahren wirklich nicht auf dich allein gestellt leben. Das Essen hier ist gut und wir haben einen schönen Garten. Ich werde für dich herum telefonieren, sodass wir so schnell wie möglich Pflegeeltern finden», erklärte er mit betont ruhiger Stimme, wohl wissend das dies sicher keine guten Nachrichten für den Teenager waren.
Er hatte damit gerechnet, dass er nicht gehen konnte. Dennoch traf ihn diese Tatsache schwerer als erwartet. Was jedoch noch viel schlimmer war, war der Fakt, dass er wirklich nicht daran gedacht hatte, und nun eiskalt erwischt wurde. Selbst wenn der Leichnam seiner Mutter nicht mehr zuhause lag, konnte er nicht mehr dorthin, da er minderjährig war. Vaughn hatte so lange auf sich selbst gestellt gelebt, dass er dies völlig vergessen hatte.
«Ich werde auf keinen Fall in irgendeine VERFICKTE PFLEGEFAMILIE gehen.» Okay, nicht schreien, tief durchatmen. «Ich bin ein Wandler! Das muss doch für irgendetwas gut sein. Das könnt ihr nicht machen.» Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig. Es ging nicht. Es ging einfach nicht! «ICH BRAUCHE NIEMANDEN UND ICH WILL AUCH NIEMANDEN!», schrie er aus vollem Halse. Dabei drang sogar das Krähen seines Raben ab und an durch. Am liebsten würde er den Arzt anschreien bis er so heiser war, dass kein Laut mehr von seinen Lippen kam.
Doch er blinzelte die heißen Wuttränen weg und wollte sich mit dem Rücken zu dem Arzt drehen, was natürlich nicht ging, weil er immer noch fixiert war. Das machte ihn noch rasender. Es war eine absolute SCHWEINEREI, dass er hier jetzt auch noch gefesselt war, ohne eine Möglichkeit diesem Dr. Goodwyn auszuweichen. Wer sollte sich bitte auf diese Art und Weise beruhigen können?
Auch der Arzt merkte schnell, dass die Fixierung den Teenager mehr aufregte, als sie ihm half und war bereit ein Experiment einzugehen. «Ich werde dich jetzt von der Fixierung befreien, jedoch nur wenn du dich dann versuchst zu beruhigen. Du kannst in den Garten gehen und solange fliegen bis du müde bist, aber ich möchte nicht hören, dass du mir einen Strick aus der Sache drehst und dich oder andere verletzen. Ich verstehe wirklich, dass dich diese Sache aufregt, und du hast auch jedes Recht dazu. Ich kenne niemanden, der sich gerade anders fühlen würde. Es gibt schließlich Gründe für deine Wut und jedes Gefühl hat seine Daseinsberechtigung. Es ist also okay. Es ist okay, wenn du schreist und die Kissen verprügelst, aber tu dir nicht weh und wenn du reden willst, ist hier immer jemand für dich da. Okay?», fragte er. Doch schon während er gesprochen hatte, hatte er begonnen die Fixierung zu lösen. Es würde nicht leicht sein das Vertrauen von Vaughn zu gewinnen. Es machte auch keinen Sinn, ihm eine Therapie aufzuzwingen. Doch gehen konnte er wirklich nicht.
Für Adam war es schwer sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste bei mehreren Selbstmordversuchen der Mutter anwesend zu sein. Für sie den Notruf zu wählen, bevor man seinen Namen richtig schreiben konnte und über die Anleitung durch Ersthelfer am Telefon zu versuchen, seiner Mutter das Leben zu retten. Heute war er nach Hause gekommen und von der Polizei begrüßt worden, die schon vor Ort war und ihm wohl nicht schonend genug beigebracht hatten, dass es diesmal wirklich vorbei war. Vielleicht gab es auch gar keine Möglichkeit eine solche Nachricht schonend genug zu überbringen. Er wünschte, er hätte die kleine Familie früher gekannt und ihr helfen zu können. Zumindest hatte er nun die Chance, Vaughn zu helfen.
Dieser hatte sich beruhigt, weil der Arzt ihn aus seiner Misere befreite. Auch wenn er fand, dass er viel zu viel redete und ihm dadurch nur noch mehr Tränen übers Gesicht liefen. Dabei wollte er nicht vor anderen weinen. Jungs weinten nicht! Starke Jungs weinten nicht. Doch er nickte, ließ sich sogar zu dem Garten begleiten, wo er sich verwandelte und unendliche Runden flog, bis er sich auf einem Ast in einem Baum zurückzog. Wäre die gläserne und verspiegelte Kuppel nicht, hätte er gleich davon fliegen können. Oder versuchen können, den Mond zu erreichen …
3 Antworten zu “Skinshifting Vaughn und Faith Kapitel 1”
Ich liebe V’s und Faiths Story <3 Freu mich schon darauf wenn sie in der Hauptstory auftauchen. Weiter so! Glaub an dich!
Die Geschichte von Vaughn und Faith ist unglaublich süß. Ich liebe es tiefere Einblicke in so komplexe Charaktere zu bekommen. Freu‘ mich schon drauf mehr zu lesen. Weiter so! <3
„Ein sehr gefährliches Tier! Es steht zwar in der Nahrungskette auf derselben Stufe, wie eine Nacktschnecke und doch hat es die ganze Erde bevölkert und einst sogar ein Überbevölkerungssterben ausgelöst.“
—> einfach geil